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Ulla Hahn: "Wir werden erwartet"
Die Geschichte einer politischen Verwirrung

Die Schriftstellerin Ulla Hahn hat ihre Protagonistin Hilla Palm bereits in drei Romanen durch ein viertel Jahrhundert deutscher Nachkriegsgeschichte reisen lassen. Mit "Wir werden erwartet" erscheint nun ihr viertes Buch. Darin sucht Hilla Palm ihre politische Identität in turbulenten Zeiten.

Von Marta Kijowska | 21.09.2017
    Buchcover Ulla Hahn: Wir werden erwartet
    Buchcover Ulla Hahn: Wir werden erwartet (DVA / picture-alliance / dpa-ZB / Arno Burgi)
    Das kleine Dondorf, der Heimatort von Hilla Palm, ist mit dem rheinischen Monheim - wo Ulla Hahn aufgewachsen ist - nicht identisch. Dennoch konnte man sich bei der Lektüre der früheren Bände ihrer Tetralogie genau ausmalen, was auch sie - ähnlich wie ihre Protagonistin - in ihrer Jugend hinter sich lassen wollte: den ganzen kleinstädtischen Mief mit seinen vielen Tabus und strengen Verhaltensregeln. Und die erdrückendende Atmosphäre ihres Elternhauses, in dem der ebenso ungebildete wie autoritäre Vater den Ton angab. Man konnte auch gut nachempfinden, was es für sie bedeutete, Studentin in Köln zu werden und dort das politisch schwierige Jahr 1968 zu erleben.
    Es ist allerdings viel Vorstellungskraft nötig, um zu begreifen, was sie dazu bewegen konnte, kurz danach der Kommunistischen Partei beizutreten und über Jahre deren eifrige Aktivistin zu bleiben. Das ist auch die Frage, die sie sich selbst in diesem Abschlussband ihrer Tetralogie stellt und deren Dringlichkeit ihr Alter Ego, Hilla Palm, bereits auf der ersten Seite signalisiert:
    "Die Zeit drängt. Drängt mich hinein in das Ende dieser Geschichte, ein Ende, vor dessen Anfang ich zurückschrecke wie der Arzt vor dem Schnitt. Ohne Betäubung."
    Abschied aus der Provinz
    Dass Palm mit dem "Anfang vom Ende" ein Ereignis meint, auf das der Titel des ersten Teils des Romans - "Der Tod" - anspielt und das der Auslöser ihrer Hinwendung zum Kommunismus sein wird, ahnt der Leser an dieser Stelle noch nicht. Er merkt aber schnell, dass sie in jenem Jahr 1968, in dem die Handlung einsetzt, die Welt weitgehend mit den Augen des Mannes sieht, mit dem sie eine Liebesbeziehung hat. Denn mit Hugo Breidenbach, einem sensiblen Jungen aus gutem Hause, scheint alles möglich: der endgültige Abschied von der Enge der Provinz, die erneute Hinwendung zu Gott, das Herumreisen in der Welt. Gleichzeitig erleben die beiden jene starke Politisierung des Landes, die von außen der Vietnamkrieg und von innen der Generationenkonflikt und der als repressiv empfundene Staat mit sich gebracht haben. Den diversen politischen Theorien, die nun kursieren, stehen sie aber genauso skeptisch gegenüber, wie dem neuen Lebensstil vieler ihrer Altersgenossen: Sie leben in Wohngemeinschaften, rauchen Haschisch, diskutieren stundenlang über die Zukunft der Welt und begreifen selbst die bunte Bemalung ihrer Wände als politisches Programm.
    "Was Farbe an den Wänden ausmacht! Verschwunden das edle Weiß, dezenter Hintergrund für zweitrangige Gemälde aus dem 19. Jahrhundert. Stattdessen verkündeten Marx Engels Lenin: "Alle reden vom Wetter, wir nicht!" Che Guevara blickte zuversichtlich unter seiner bestirnten Baskenmütze in eine bessere Welt. Mao lächelte vor strahlendem Sonnengold."
    Die Frage, ob das Paar doch Gefallen an diesem Stil finden könnte, stellt sich gar nicht, denn bald danach stirbt Hugo bei einem Autounfall, und für Hilla beginnt die schlimmste Zeit ihres Lebens. Verzweifelt versucht sie, bei Freunden und Familie Halt zu finden, was ihr manchmal auch gelingt. Dann aber beschließt sie, mit ihrem alten Leben zu brechen und nach Hamburg zu ziehen, wo sie eine Doktorarbeit schreiben und ihren Vorsatz "Arbeiten, Studium, die Welt verbessern" realisieren will. So beginnt "Der Kampf" - der zweite Teil des Romans.
    Politik als Lebenssinn
    Hilla kämpft um einen neuen Lebenssinn, aber sie beginnt tatsächlich auch, sich politisch zu engagieren. Anfangs fällt es ihr schwer, die vielen Gruppierungen auseinanderzuhalten, doch dann entdeckt sie für sich die Kommunistische Partei und tritt ihr nach kurzer Zeit bei. Ihre Entscheidung hat zum einen mit ihrer Herkunft zu tun, zum anderen mit der Geschichte der Partei, vor allem mit der Tatsache, dass sich in ihren Reihen immer noch viele Verfolgte des Naziregimes befinden.
    "Der Glaube, den Genossen von gestern ein besseres Heute schuldig zu sein, überwog jeden Zweifel. Ihre guten Absichten zu vollenden, den Kampf wieder aufzunehmen und auf unsere Weise weiterzuführen, das war unsere Aufgabe."
    Ulla Hahn nutzt gekonnt die Geschichte ihrer Protagonistin, um dem Leser Einblick in die Arbeit der Partei zu ermöglichen. Allerdings hätte eine weniger genaue Schilderung ihrem Buch gutgetan, zumal sie auch den Ehrgeiz hat, die ganze Geschichte des Kommunismus in Westdeutschland zu erzählen, die eigene Beherrschung aller linken Theorien zu beweisen und vor allem ihre Mitgliedschaft in der DKP zu rechtfertigen. Und diese Selbsterklärungsversuche irritieren insofern, als sie ihrem literarischen Alter Ego einen Hauch von Naivität und Selbstgefälligkeit verleihen. Was aber an ihr am meisten stört, ist ihre Unkenntnis jener politischen Realität, die sie sich für ihr Land so sehnlich wünscht - was sich nicht zuletzt in ihrer Begeisterung für die DDR äußert.
    "Dass die DDR der bessere Staat war, friedliebender, gerechter, sozialer, bezweifelte ich kaum. Trotz Mauer und Schießbefehl? Ja. Die Mauer war nicht in erster Linie eine Abwehrmaßnahme der Arbeiter-und-Bauern-Macht gegen NATO-Panzer und CIA, wie die Partei es sah. In meinen Augen war sie vor allem ein Schutzwall gegen die Flucht der Ewiggestrigen, damit den aufrechten Genossen ihr neues Land nicht kaputtging."
    Hilla verhält sich also ein wenig so, als wäre ihr als Einziger entgangen, was zu dem Zeitpunkt bereits jeder weiß: dass der Sowjetkommunismus ein totalitäres, menschenverachtendes Regime ist. Doch immerhin wird sie nach vier Jahren DKP-Mitgliedschaft mit der Wirklichkeit konfrontiert: 1975 fährt sie mit einer Delegation nach Ostberlin und Dresden. Diese Reise sorgt für ihre rapide Ernüchterung.
    Ein authentisches Zeitdokument
    Nach ihrer Rückkehr nach Hamburg versucht sie zwar noch, ihrer Überzeugung treu zu bleiben, schreibt an die Chefideologen der Partei, schlägt Verbesserungen vor. Als sie aber dahinterkommt, dass sie jahrelang von ihren Genossen bespitzelt wurde, und ihr gleichzeitig nahegelegt wird, die Partei zu verlassen, tut sie es endlich. In Zukunft will sie nicht mehr an eine einzige Wahrheit, sondern an den Konjunktiv glauben und statt für große Worte nur noch "im Wort" leben.
    "Ja. Im Wort. Wo alles möglich ist. Bei Gott ist kein Ding unmöglich. Und nicht auf dem Papier. Leben im Konjunktiv heißt leben im Wort."
    Der dritte Teil des Romans, der nur sechs Seiten umfasst und "Das Fest" heißt, ist auch ein überzeugender Beweis dafür, dass Hilla Palm diesmal den richtigen Weg gewählt hat – den einer Schriftstellerin. Das ist an den Gedichten zu erkennen, die übrigens nicht nur hier, sondern im ganzen Buch eingestreut sind. Vor allem aber an dem Stil dieser letzten Passage, der - leicht, poetisch und sehr persönlich - so wirkt, als wäre Hilla von einem Korsett befreit worden. Man bedauert es fast, dass dieser "postkommunistische" Teil so kurz ausgefallen ist, und zollt Ulla Hahn doch großen Respekt: Denn alles in allem ist ihr mit "Wir werden erwartet" ein interessanter Entwicklungsroman und vor allem ein wichtiges Zeitdokument gelungen. Oder besser: ein Buch von zeithistorischer Bedeutung, das gekonnt Fiktion mit Dokumentation verbindet und das auf einer individuellen Erfahrung gründet, die - wenn auch nicht immer nachvollziehbar - durch ihre Authentizität beeindruckt.
    Ulla Hahn: "Wir werden erwartet"
    DVA, München 2017. 633 Seiten, 29 Euro.